Nicht an Lampe denken
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Gregor kommt in der fünften Klasse auf das Kippenberg-Gymnasium. Wir informieren den Klassenlehrer, der zugleich auch der OS-Direktor ist, über Gregor's Hochbegabung. Nach zwei Jahren Abschluss mit 2,6. Gymnasialempfehlung. Alles klar also. Gregor freut sich unglaublich auf das nächste Schuljahr, jetzt endlich in der Mittelstufe. Tagelang bereitet er die Klamotten für den ersten Schultag vor. Dann die neue, siebte Klasse, neue Mitschüler,  neue Lehrer.

Doch bald bekommt Gregor große Schwierigkeiten z. B. in Latein. In der Lateinklasse haben einige schon seit über einem Jahr Lateinunterricht gehabt, andere, wie Gregor,  fangen gerade an. Der Unterricht ist für alle gleich. Beim Elternsprechtag versuchen wir alle Lehrer anzusprechen, wir teilen uns die Termine. Tendenz: im wesentlichen unproblematisch, von der Intelligenz her völlig klar. Nur die Lateinlehrerin, die erst wegen "zu wenig Zeit" mit uns gar nicht sprechen wollte - eine andere Mutter gab uns ihren Termin ab -, sagt zu uns lakonisch: "Schaffen Sie es alleine oder benötigen Sie professionelle Hilfe?" Wir nehmen also im Dezember professionelle Hilfe in Anspruch. Gregor geht regelmäßig zur Nachhilfe. Die Nachhilfelehrerin ist mit seiner Leistung sehr zufrieden.

Im Deutschunterricht ist die Arbeit an der Herbstmappe angesagt. Gregor sucht Texte zusammen, schreibt Gedichte und fiktive Interviews, macht Fotos. Die Note: 3-4.

Gregor ist ein überaus williger Schüler. Alle Anregungen, die wir ihm zur Erleichterung des Lernens machen, nimmt er an: er macht sich einen Zettelkasten für Vokabeln, schreibt Tabellen am Computer für Deutsch, Latein und Mathe, um sich schwierige Sachverhalte klar zu machen. Immer wieder bespricht er mit uns seine Aufgaben. Nach drei Monaten bricht aber sein bisher gut geführtes Hausaufgabenheft ab. Er versteht nicht, wieso sich all seine Mühen, obwohl er ja nicht blöde ist, nicht in Ergebnissen niederschlagen. Im Gegenteil. Der Situation wird unerträglich.

Bis zum Halbjahreszeugnis verlassen sieben Schüler die Klasse, alles Jungs. Bei manchen geht es so schnell, dass es die Elternsprecher kaum mitbekommen.

 

14.1.2001 - Wir schreiben einen fast dreiseitigen Brief an den Klassenlehrer. Es geht um die Herbstmappe und eine Deutscharbeit, derer Benotung absolut unverständlich ist. Wir bekommen einen Gesprächstermin am 5.2. um 17.00 Uhr.

25.1.2001 - Gregor hat heute sein Zeugnis bekommen. Notendurchschnitt 3,5.  In den Fächern, die kurz zuvor noch zwischen zwei Notenwerten lagen, hat sich Gregor in den Tagen vor dem Zeugnis besonders angestrengt - er hat für Kunst noch ein Bild gemalt, für Erdkunde ein ganzes Heft abgeschrieben. Dies wurde dann doch nicht berücksichtigt

1.2. 2001 - Elternstammtisch. Die Themen: Lateinunterricht, Situation der Klasse, Herbstmappe. Es kommt zum Ausdruck, welche Eltern wie intensiv an der Herbstmappe gearbeitet haben. Ein Vater beklagt sich, dass er seinen ganzen Herbsturlaub am Gardasee geopfert hätte und nur eine drei bekam.

Ab sofort lernt Gregor unter Aufsicht und Hilfestellung der Eltern.

5.2.2001 - Treffen mit dem Klassenlehrer -  zwei Stunden.  Es geht vorwiegend um Gregor. Wir gehen dabei den Brief durch. Der Klassenlehrer sagt, er könne uns keine Auskunft mehr geben über die Benotung der Herbstmappe geben.  Nach Rückfrage in der Klasse, ob ein Schüler noch etwas wissen wolle, und der Feststellung, dass dies nicht der Fall gewesen sei, habe er die Unterlagen vernichtet.  Wir weisen den Lehrer am Ende des Gespräches  freundlich darauf hin, dass er ein Jahr lang solche Unterlagen aufzubewahren habe.

Wir sprechen den unverständlichen Leistungsabfall von Gregor an. Der Klassenlehrer sagt, dass ihm die Noten der Vorklassen (OS) ganz egal seien, die interessierten ihn nicht.

Wir informieren ihn über die Nachhilfe und vereinbaren, dass wir kontinuierlich über die Entwicklung Gregor's informiert werden möchten. Wir verabreden auch, dass die Eltern alle Klassenarbeiten sehen und gegenzeichnen möchten, und dass in Gregors Hausaufgabenheft alle notwendigen Mitteilungen nachvollziehbar gemacht werden sollen.

Auch die Situation in der Klasse kommt zur Sprache. Die Schüler fühlen sich zu unrecht beschuldigt, beklagen sich über dumme, beleidigende Bemerkungen, über Runtermachen, Wehtun, auch körperlich. Der Klassenlehrer erwägt, eine Klassenkonferenz einzuberufen.  Wir haben das Gefühl, dass es uns doch gelungen ist, eine konstruktives Gespräch zu führen.

Kurze Zeit danach bekommt Gregor für die Balladenmappe, die mit anderen zusammen erarbeitet hatte, eine eins. Endlich Erleichterung. Gleichzeitig gibt es neue Probleme, diesmal in Englisch. Gregor geht jetzt zusätzlich zu der Lateinnachhilfe einmal pro Woche zur Englischkonversation.

21.3.2001 - Elternabend - neben dem Klassenlehrer sind noch drei andere Lehrer, über die sich die Schüler massiv beklagen, eingeladen: Es erscheinen nur der Klassenlehrer und der Mathematiklehrer, der zweite stellt sich der Diskussion. Der Klassenlehrer versteht sich nur als Vermittler. Die Eltern trauen sich kaum, klar ihre Kritik auszusprechen. Es sind auch die Klassensprecher eingeladen. Gregor meldet sich zu Wort und sagt sehr freundlich: "Wenn Sie weniger schreien würden, würden wir mehr verstehen."

Osterferien. Wir atmen auf.

18.4.2001- Der Klassenlehrer ruft bei uns abends an. Es geht um die geplante Klassenfahrt. Wir sprechen miteinander ungefähr eine halbe Stunde. Dann legt er auf.

19.4.2001 - Gregor ruft mittags über Handy an, er müsse etwas sagen: er bekäme einen blauen Brief. Wir fahren sofort nach Hause, sprechen mit Gregor, sind bestürzt. Wieso hat der Lehrer gestern nichts gesagt? Wir fragen Gregor, was der Klassenlehrer zu ihm gesagt hat. Er antwortet sinngemäß: da hast du wohl Scheisse gebaut. Das war alles. Zu diesem Zeitpunkt gehen wir davon aus, dass es sich um Latein und Mathematik handelt. Denn wir wussten wohl, dass Gregor in diesen Fächern Probleme hatte. In Latein hat Gregor im ganzen Halbjahr nur eine Arbeit Latein geschrieben, dafür eine vier bekommen. Wir rufen die Nachhilfe-Lehrerin an, sie sagt, das kann gar nicht sein, Gregor kenne den Stoff und könne sicherlich gute Arbeiten schreiben. Wir warten auf den Brief. Gregor ist erstaunlich unberührt, er will das Ganze gar nicht glauben, so scheint es.

28.4. 2001 - Der blaue Brief kommt auf Umwegen endlich. Neben Latein und Mathe ist hier auch noch Englisch erwähnt. Wir sind zuversichtlich, dass es Gregor bis zum Jahresende schafft. Wir schreiben den drei Fachlehrern und verlangen nach den bisherigen Noten und einem Gespräch. Gregor gibt die Briefe dem Klassenlehrer, der zugleich für Englisch zuständig ist, und der Lateinlehrerin ab. Wir bekommen keine Antwort.

3.5. 2001 - Gregor hat erhöhte Temperatur und bleibt zu Hause - später erfahren wir, dass er an diesem Tage einen Englischtest, den er uns verschwiegen hatte, korrigiert abgeben sollte.

4.5. 2001 Gregor ist wieder in der Schule - er erzählt mittags, dass er jetzt eine drei in Latein und eine zwei in Bio bekommen hat. Wir freuen uns über den Erfolg und sind sicher, dass wir es mit der Schule hin bekommen werden.

6.5. 2001 - Gregor schläft abends bei einem Mitschüler. Bei uns ruft eine Mutter an und fragt, was wir von dieser unmöglichen Englischarbeit halten: 8 Kinder haben eine 5, 8 eine 4 bekommen, es seien Fragen drin, die die Kinder nachweislich nicht beantworten konnten. Wir wissen von nichts.  Es ist aber klar, dass Gregor unter denen ist, die wieder einmal eine 5 bekamen. Der Vater ruft Gregor bei seinem Freund an und fragt, warum er uns nichts gesagt hat. Gregor antwortet: Ich wollte doch morgen in den Sportgarten - das hättet ihr mir nicht erlaubt. Es ist das letzte Gespräch, das der Vater mit Gregor führt. Wir überlegen, ob Gregor gleich nach Hause kommen oder doch, wie vorgesehen, bei seinem Freund bleiben soll, schließlich entscheiden wir, dass Gregor bei seinem Freund übernachtet, denn am nächsten Tag ist schulfrei.

7.5. 2001 Gregor kommt um 9.30 nach Hause,  er begleitet  seinen kleinen Bruder, der ins Schullandheim fährt, zum Bus. Danach wieder nach Hause, die Mutter spricht mit Gregor  darüber, dass er die Note verheimlichte. Gregor wirkt deprimiert. Die Mutter spricht noch fast eine Stunde über mögliche Perspektiven und sagt ihm, er solle jetzt seine Schulsachen aufräumen, damit ein genauer Überblick möglich wird. Sie schlägt vor, dass um vier Uhr, wenn sie wieder nach Hause komme, als erstes gemeinsam der Englischtest korrigiert wird. Und dabei wird ihr klar, dass die Aufgaben so schwierig sind, dass sie selbst, obwohl sie gut Englisch kann, Schwierigkeiten mit den richtigen Antworten haben wird. Gregor ist ganz ruhig, ungewöhnlich still. Die Mutter sagt, sie wisse, dass viele bei der Arbeit schlecht abgeschnitten hätten, dass es Fragen gab, die die Schüler gar nicht beantworten konnten. Gregor sagt nur, das sei ihm nicht wichtig. Um 11.00 Uhr verlässt die Mutter das Haus.

Um 16.20h findet sie Gregor tot auf. Er hatte sich erhängt.

 

Eine Woche nach der Trauerfeier für Gregor bekommen wir zum ersten Mal tatsächlich die Noten von Gregor vom Schulleiter ausgehändigt. Die Aufstellung macht deutlich, dass sich Gregor verbessert hatte, dass der "blaue Brief" zumindest nach unserer Auffassung hätte gar nicht verschickt werden dürfen. Es findet ein Gespräch mit dem Schulleiter, einigen Lehrern und Lehrerinnen, Elternvertretern und Vertreten der Behörde statt. Wir werden aufgefordert, innerhalb von 16 Stunden Fragen an die Schule zu formulieren. Das tun wir auch. Auf die Antworten warten wir sieben Monate. Die Schule sehe sich nicht in der Lage  unsere Fragen zu beantworten, das bekommen wir auf Grund mehrerer Nachfragen zu hören. Zwischenzeitlich verschwinden Unterlagen aus der Mappe, die in der Behörde zu diesem Fall angelegt wird. Schließlich bekommen wir, nachdem wir auch zwei Gespräche mit dem zuständigen Senator führen, ganz dürftige Antworten der Schule und einen nichtssagenden Brief der Behörde. Der Senator bietet uns an, dass er noch weiter nachfragen würde. Wir sehen keinen Sinn mehr darin.

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