Dokumentation zur schulischen "Aufarbeitung" des Suizids von Gregor
1.Erster Brief des Vaters an den Klassenlehrer

2. Zweiter Brief des Vaters an den Klassenlehrer

3. Gespräch mit dem Schulleiter, Forderung nach Einsicht in sämtliche Noten Gregors

4. Gespräch in der Schule Juni 2001, erste Fragen

5. Erweiterte Fragen von den Eltern an die Schule

6. Erster Brief der Schulbehörde an die Eltern (Kaschner01)

7. Von der Behörde umformulierte Fragen an die Schule (von Behörde "bereinigte" Version)

8. Erneuter Versuch der Eltern Antwort auf ihre Fragen zu erhalten

9. Runder Tisch am Kippenberg Gymnasium (ohne die Eltern)

10. Rundbrief des Elternbeirats vor den Sommerferien 2001

11. Das Buch der Schüler

12. Brief des RA der Eltern an den Senator für Bildung

13. Erster Brief des Kippenberg Gymnasiums an die Behörde (Gerlach)

14. Zweiter Brief der Schulbehörde an die Eltern Lückert/Bruns01

15. Antwortschreiben des RA der Eltern an die Behörde

16. Erstes Gespräch mit Senator Lemke

17. Brief des Kippenberg Gymnasiums mit den Antworten auf die Fragen der Eltern

18. "Abschließender" Brief der Behörde mit den Antworten auf die Fragen der Eltern an die Behörde

19. TAZ: "von manchen totgeschwiegen"

20. Zweites Gespräch mit Senator Lemke

21. Horror Vacui - Gründung der Initiative "Peace Gregor"

Dokument 1.

Brief an den Klassenlehrer vom 13.1.2001

Sehr geehrter Herr S.

ich habe mir überlegt, die schriftliche Form für meine Anfrage zu verwenden, da ich sicherlich hierbei meine Überlegungen und Fragen klarer zum Ausdruck bringen kann.

Es geht um das Ihnen sicherlich ganz vertraute Thema der Beurteilung von Schülerleistungen und deren Transparenz.

Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es nicht einfach ist, so ganz unterschiedliche Kinder und Jugendliche und deren Leistungen so zu bewerten, dass alle Seiten damit glücklich sind. Darum geht es mir auch nicht in erster Linie.

Was mich interessiert ist die Tatsache, dass mein Sohn Gregor nach Hause kommt und ganz geknickt ist über die Tatsache, dass er eine wesentlich schlechtere Note für eine Leistung bekommen hat, als er sich das vorgestellt hatte.

Nun ist die Selbsteinschätzung eine Sache, die objektive (oder subjektive) Beurteilung aus der Sicht des Lehrers eine andere. Aber es muss doch sicherlich ein ganz wesentliches Element bei der Notengebung sein, dass die Schüler mindestens dann, wenn sie die Arbeit zurückbekommen, die Kriterien erfahren und einsehen können, die zu ihrer Bewertung geführt haben. Wenn diese Kriterien nicht klar und verständlich sind, erfahren die Kinder eine Bewertung als Willkür, vor der man sich nicht schützen kann und die sie auch gar nicht angesprochen haben wollen, da sie sonst befürchten, es könne schlechte Auswirkungen wiederum auf sie und ihr angestrebtes gutes Verhältnis zu der Lehrperson haben.

Konkret:

Gregor hat eine dreibisvier für die Herbstmappe erhalten. Auf unserer Frage, was der Lehrer dazu gesagt habe, meinte Gregor sinngemäß "es habe eine Inhaltsangabe gefehlt und auch sei der Umschlag nicht gestaltet. Außerdem habe das Layout nicht den Ansprüchen genügt." Auf unsere Frage, was an der Mappe vom Gesichtspunkt des Deutschunterrichts nicht richtig war, konnte er keine Antwort geben. Nun hat er möglicherweise Ihre Ausführungen nicht richtig verstanden, hat vielleicht die entscheidenden Informationen aus Frust gar nicht hören wollen, aber ich muss sagen, auch wir konnten ihm da keine Antworten geben, die ihm diese Note hätten verständlicher machen können.

Ich würde sie da ganz höflich bitten mir mitzuteilen, wie sie diese Arbeit benotet haben, damit ich dann die geforderte Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus auch erfüllen kann.

Dazu kommt dann das zweite Beispiel, welches mir die Kriterienlage nicht gerade transparenter macht: die Klassenarbeit, die die Schüler letzte Woche nach Hause gebracht haben.

Sie schreiben da folgende Aufgabe: (von dem Layout Ihrer Aufgabenstellung möchte ich erst gar nicht reden, aber sie ist kein gutes Vorbild für ein gefordertes Layout bei der Herbstmappe...) "Schreibe den Text, und verbinde dabei jeweils zwei Hauptsätze mit einer Konjunktion".

Erster Fehler: Gregor hat keine Konjunktion verwendet, allerdings ist der Satz meiner Meinung nach so besser als mit einer Konjunktion. (vielleicht hätte man dann ein Semikolon nehmen müssen?) Zweiter Fehler: "eingang" ist klein geschrieben, ist klar. Aber: Warum kein Komma nach "schrecklich"? und ist "schrecklich" eine Konjunktion, oder nicht eher eine Interjektion? Ist das dann auch ein Fehler? (Aber stilistisch ist das doch ganz gut?) Die nächsten Sätze verknüpft er mit "weil" macht also daraus eine Unterordnung. Ist das noch im Sinne der Aufgabe? Zwei Hauptsätze hätten wohl hier mit "denn" verbunden werden müssen. Insgesamt schreiben Sie dann darunter Gregor habe zu viele Sätze mit "und" verbunden, aber ich muss Ihnen sagen, mir fiele es auch sehr schwer, bessere Konjunktionen zu finden unter der Maßgabe, dass es Hauptsätze bleiben müssen. Können Sie mir das deutlich machen? (Gregor schrieb in zartem Gelb Korrekturvorschläge, die Sie offenbar als Lösungsvorschläge nannten. Nun sind diese Vorschläge allerdings keine Bei- sondern Unterordnungen. Hat das Gregor wieder falsch verstanden?

Zu Aufgabe 2:

Hier stellte sich im Zusammenhang mit Ihrer Beurteilung der Aufgabe 1 die Frage, ob die Arbeit nach der neuen oder nach der alten Rechtschreibung (Interpunktion) beurteilt wurde.

Noch ein Punkt:

Insgesamt habe ich ausgerechnet, dass die eingekringelten Zahlen zusammen 23,75 Punkte ausmachen. Sie haben 28,25 hingeschrieben, auch da kann ich nichts erkennen, da ich die Gesamtanzahl der Punkte nicht kenne und Gregor sie mir auch nicht sagen konnte.


Ich will jetzt nicht weitere Details aufzählen, es gäbe noch mehr Punkte zu hinterfragen, aber ich denke Sie verstehen, dass ich große Schwierigkeiten habe zusammen mit Gregor die Arbeit so durchzugehen, dass die Beurteilung transparent wird.

Ich möchte Ihnen auch sagen, dass ich volles Verständnis für Sie habe, bitte fassen Sie diese Äußerungen nicht als Kritik an Ihrer Arbeit auf, die ich insgesamt sehr schätze, aber es ist sicher in unser beider Interesse, wenn die Schüler einfach wissen, was los ist und nicht im Nebel der deutschen Grammatik. herumstochern müssen.

Den entscheidenden Auslöser, dass Ich ihnen diesen Brief geschrieben habe, hatte ich dadurch, dass Gregor so unbestimmt sagte, ich solle sie nicht kontaktieren. Das können Sie und ich nicht zulassen, dass Schule und Elternhaus aus welchen Gründen auch immer nicht produktiv - und wenn es sein muss auch pingelig - miteinander zusammenarbeiten.

mit freundlichen Grüßen und in der Erwartung auf weitere gute Zusammenarbeit

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Dokument 2

Zweiter Brief des Vaters an den Klassenlehrer von Gregor vom 29.4.01

(Dieser Brief wurde an alle Lehrer, bei denen Gregor schlechte Noten hatte versandt. Keiner dieser Briefe wurde beantwortet.

Sehr geehrter Herr S.

Wir haben von der Versetzungsgefährdung unseres Sohnes Gregor Kenntnis erhalten. Dabei ist Gregor in Ihrem Fach offenbar ebenfalls äußerst gefährdet. Wir bitten Sie um einen Gesprächstermin.

Unsere Möglichkeiten für ein Gespräch sind: Dienstags und Donnerstags erste große Pause, wenn mehr Zeit eingeplant werden muss geht auch der Dienstag Nachmittag. Bitte seien Sie so freundlich und bereiten Sie für dieses Gespräch eine schriftliche Aufstellung der bisherigen Einzelnoten (schriftlich - auch Tests und mündlich) in Ihrem Fach vor und zwar des ersten und zweiten Halbjahres. Wichtig wäre auch eine Klärung der Schwerpunkte, in denen Gregor offenbar große Wissenslücken hat. Da wir bereits seit einiger Zeit Gregor zur Nachhilfe schicken, brauchen wir genaue Anhaltspunkte, wo Defizite besonders dringend aufgearbeitet werden müssen.

Mit freundlichen Grüßen

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Dokument 3

Nach Gregors Tod am 7. Mai 2001.

Die Schule weist sofort jegliche Verantwortlichkeit am Tode Gregors von sich. Unsere Versuche Klarheit zu erlangen werden als Schuldzuweisung interpretiert, die Schule reagiert äußerst gereizt. Kein Lehrer, kein Vertreter der Schulleitung kommt, um persönlich mit uns zu sprechen. - Bis heute nicht.

Wenige Tage danach gehen wir in die Schule, um den Schulleiter des Kippenberg Gymnasiums aufzufordern, uns alle Noten von Gregor zusammenstellen zu lassen. Eine Woche nach der Trauerfeier für Gregor bekommen wir auf unser Drängen hin tatsächlich die Noten von Gregor vom Schulleiter ausgehändigt. Wir vereinbaren ein Treffen mit Vertretern der Schule, um unsere schwer lastenden Sorgen und die Positionen der Schule miteinander auszutauschen.

Die Aufstellung der Noten macht deutlich, dass sich Gregor gegenüber dem Vorhalbjahr verbessert hatte, dass der "blaue Brief" zumindest nach unserer Auffassung der Rechtslage hätte gar nicht verschickt werden dürfen.

Inzwischen waren in der Schule noch mehr Dinge vorgekommen, die unser Vertrauen in die Schule weiter in Frage stellten. Besonders Indiskretionen im Zusammenhang mit Gregors Abschiedsbrief, den wir zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht in seiner vollen Länge kannten (die Kripo hatte ihn mitgenommen und dann im Kollegium des Kippenberg Gymnasiums zur Kenntnis gegeben - ein Kollege hat den Inhalt dann Schülern weitererzählt), hatte uns zutiefst verletzt.

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Dokument 4

Am 5. Juni findet ein Gespräch mit dem Schulleiter, einigen Lehrern und Lehrerinnen, Elternvertretern und Vertretern der Behörde statt. Das Gespräch wird vom Pastor der Friedensgemeinde in Bremen moderiert, zu dem wir grosses Vertrauen haben. Um unsere drängensten Fragen zu dokumentieren haben wir einen Fragenkatalog mitgebracht, der als Grundlage des Gesprächs dient.

Fragen an die Schule:
1. Wie sieht die Schule das Verhalten des Klassenlehrers gegenüber Gregor und seinen Eltern?
2. Wie stellt sich die Schule eine Kooperation zwischen Elternhaus und Schule vor, unter den hier dargestellten Tatsachen?
3. Wie geht die Schule mit dem "Blauen Brief" um?
4. Wie geht die Schule um mit der Veröffentlichung des Abschiedsbriefes von Gregor? Wie ist das mit der Schweigepflicht?
5. Wie geht die Schule um mit Klassenarbeiten, die den Richtlinien der Schule nicht entsprechen?
6. Wie geht Schule um mit dem generellen Problem der Leistungsbemessung gegenüber der Einschätzung der Gesamtpersönlichkeit eines Schülers einer Schülerin?

Fragen an die Schulbehörde:
1. Warum unterrichten Lehrer, die seit Jahren keine Erfahrungen mit Schülern in der 7. und 8. Klasse haben unvorbereitet an der SI? Warum werden sie nicht hinreichend für diese neue Aufgabe qualifiziert? Welche Fortbildungsmaßnahmen (obligatorischer Art) gibt es?
2. Wie wird darauf geachtet, daß zumindest das "Stammpersonal" (Hauptfachlehrer) in den Klassen diese Befähigung hat?
3. Wie geht die Schulbehörde mit dem "Verschleißphänomen" um, also mit den Lehrern, die einfach keine Lust mehr haben auf Grund ihres Alters sich ganz neuen Herausforderungen unter immer mehr sich verschlechternden Bedingungen zu stellen?
4. Wie kann die Schulbehörde es akzeptieren, daß junge, lustige, modisch sich gebärdende Schüler und Schülerinnen nur von Lehrern unterrichtet werden, deren Kultur mit der der heutigen Jugendlichen auch gar nichts mehr gemein hat? Und das ausgerechnet in der SI, wo sich Persönlichkeiten formen und herausbilden?
5. Wie wird dafür Sorge getragen, daß diese Schüler nicht einem sinnlosen Leistungsdruck ausgesetzt werden?
6. Welche Terminvorschläge macht die Behörde und die Schule zur Beantwortung der Fragen - und: wie geht es weiter?

Diese Fragen werden bei dem Gespräch andiskutiert, die Vertreter der Schulbehörde erscheinen sehr besorgt um den Zustand der Schule und wollen uns darin unterstützen, Klarheit auf unsere Fragen zu bekommen. Wir werden aufgefordert unsere Fragen zu päzisieren - innerhalb von 16 Stunden - . Das tun wir auch.

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Dokument 5

Folgende Fragen werden von uns zusätzlich formuliert und bereits am nächsten Tag per Fax an die Schulbehörde und an die Schule weitergeleitet:

1. Zur Rolle des Klassenlehrers generell:

- Warum hat der Klassenlehrer keinen Kontakt zu den Eltern aufgenommen, obwohl sie im Gespräch am 5.2. 2001 ausdrücklich danach verlangten?
- Warum hat er nicht versucht mit Hilfe der Eltern die sich dramatisch abzeichnende schulische Entwicklung zu stoppen?
- Warum hat er nicht die Gesamtpersönlichkeit des Kindes in Betracht gezogen (Entwicklung in der OS, gymnasiale Empfehlung, Hochbegabung - alles war Herr Schröder bekannt) wie es im Schulgesetz vorgesehen ist? Warum verschickt er dennoch einen Blauen Brief?
- Warum hat er nicht mit den Eltern und möglicherweise auch mit Gregor vor dem Verschicken über den Blauen Brief und seine Bedeutung gesprochen?
- Warum hat er nicht einmal im Gespräch am 18.4. erwähnt, dass es einen blauen Brief geben wird?
- Warum hat er die gesamte Gregor betreffende Kommunikation - soweit man es überhaupt als Kommunikation bezeichnen kann - über Gregor ausgetragen?
- Warum spricht er im Gespräch mit dem Kriminalbeamten nicht von dem Schreiben vom 14.1./Gespräch 5.2. und sagt, es habe nach dem Brief vom 29.4. ein "einvernehmliches Gespräch" gegeben - welches eben nicht stattgefunden hat?


2. Deutsch

- Herbstmappe - Nach welchen Kriterien wurde die Herbstmappe beurteilt. Wie sind sie nach- und überprüfbar?
- Gerade in Deutsch hat Gregor besondere Leistungen vollbracht (z.B. eigenes Gedicht in der "Herbstmappe", Gregor hat auch dem Klassenlehrer einen im 'Mix' veröffentlichten Aufsatz gezeigt, u.a.) Wieso hat der Klassenlehrer diese Begabung nicht erkannt, bzw. nicht berücksichtigt?
- Warum wurden beim Beurteilen der schriftlichen Arbeiten keine positiven Lösungsvorschläge eingearbeitet (siehe Richtlinien der Schule)?
- Warum bleiben die Korrekturen sogar für die Eltern unverständlich (auch hier Richtlinien der Schule, Brief Gregors Eltern v. 14.1.2001)?

3. Englisch

- Wann wurde der letzte Test, der mit 5 bei Gregor bewertet wurde geschrieben?, wann wurde er zurückgegeben?
- Stimmt es, dass im letzten Test Fragen gestellt worden sind, die die Schüler nicht beantworten konnten, weil der Stoff im Unterricht nicht durchgenommen wurde (siehe Richtlinien der Schule, eigene Auskunft von Klassenlehrer Herrn S., Statement im Internet-forum)
- Gab es möglicherweise auch andere Arbeiten, bei denen dies vorgekommen ist?
- Durfte der Test überhaupt gewertet werden (8x Note 5)?
- Oder war er grenzwertig?
- Gab es möglicherweise andere schriftliche Arbeiten, die entweder nicht gewertet werden durften oder grenzwertig waren?
- Waren die Ergebnisse der Arbeiten schlechter als in der Parallelklasse? Warum?

4. Latein:

- Wie wurde in der Lateinklasse die Binnendifferenzierung umgesetzt?
- Gab es auch hier im ersten Halbjahr möglicherweise schriftliche Arbeiten, deren Wertung grenzwertig war?
- Wie wurden Fortschritte von Gregor im zweiten Halbjahr überprüft (kontinuierliche Nachhilfe über mehrere Monate)?
- Was hat die Lateinlehrerin unternommen, um möglicherweise mit den Eltern rückzukoppeln?
- Warum erscheinen bei der Notenaufstellung für Latein keine mündlichen Noten?

5. Mathematik

- Wie verlief die Kommunikation zwischen dem Lehrer und Gregor? Der Lehrer sagte beim Elternabend, dass er Gregor mehr zutraut, als Gregor im Unterricht macht. Hat er versucht mit Gregor darüber zu sprechen?
- Hat er möglicherweise versucht, die Eltern anzusprechen?
- Kann es irgendeinen Grund gegeben haben, weswegen Gregor den Brief an den Mathelehrer nicht aushändigte?
- Was ist das Ergebnis der letzten Mathearbeit (Gregor ging davon aus, sie sei gut gelungen - wir haben sie bisher nicht zurückerhalten)

6. Blauer Brief:

- Wieso wurden mit den Eltern nicht darüber gesprochen (siehe oben)?
- Hat der Klassenlehrer den Blauen Brief im Alleingang geschrieben?
- Kann man den Fall von Gregor als unumstritten bezeichnen?
- Wie kamen die Eintragungen zustande?
- Fand ein Gespräch zwischen dem Klassenlehrer und der Lateinlehrerin über Gregors Fortschritte im zweiten Halbjahr statt?
- Wenn, wie offiziell dargestellt wurde von Schulleiter G., die Note des zweiten Halbjahres sich auch aus den Noten des ersten Halbjahres zusammensetzt, warum wird dies dann nicht bei den Mathe Noten angewandt? (Entweder hätte Gregor dann in Latein keine 5 oder in Mathe keine 5 haben dürfen!)
- Wieso erschien Englisch überhaupt im Blauen Brief (Noten: mdl. 3, Arbeit 1=4, Arbeit 2=5) ergeben im Durchschnitt 4 und keine 4-, wenn mdl. 1/3 zählt, wie üblich?
- Warum haben die Lateinlehrerin und der Klassenlehrer auf den Brief von Gregors Eltern vom 29.4. nicht reagiert?
- War die Versetzung von Gregor nach dem Schulgesetz tatsächlich gefährdet?
- Wie ging die Schule mit Gregors Hochbegabung um?

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Dokument 6

Erster Brief der Schulbehörde an die Eltern

Der Senator für Bildung und Wissenschaft
Regionalteam Mitte/Östliche Vorstadt

Sehr geehrte Frau Cerna, sehr geehrter Herr Rothermel,

ich möchte mich zunächst bei Ihnen bedanken, dass Sie den Mut aufgebracht haben, auf die schulische Aufarbeitung des Todes Ihres Sohnes zu bestehen. Soweit ich mich überhaupt in Ihre Lage zu versetzen imstande bin, muss dies eine enorme Belastung für Sie sein.

Sie haben in Ihrem Brief, den Sie Herrn Lückert am Dienstag abend gegeben haben, Fragen an die Schule und an die Behörde gestellt. Wir haben das Gespräch unter anderem mit der Vereinbarung beendet, dass die Schule zunächst eine Stellungnahme zu der Entwicklung bis zum Tode Ihres Sohnes unter Einbeziehung noch von Ihnen direkt an die Schule zu richtenden Fragen bis zum kommenden Dienstag abgibt. Ohne dass dies ausdrücklich angesprochen worden ist, gehe ich davon aus, dass zumindest bis zu dieser Stellungnahme der Schule die Fragen in Ihrem Brief d.h. sowohl die an die Schule als auch die an die Behörde, nicht beantwortet werden sollen.

Nach Eingang der Stellungnahme würde ich mich gerne wieder mit Ihnen in Verbindung setzen, um, unbeschadet der weiteren Vereinbarungen, die wir am Dienstag getroffen haben, gemeinsam mit der Schulleitung zu besprechen, wie wir konkret weiter vorgehen.


Mit freundlichen Grüßen

Ulrich Kaschner

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Dokument 7

Von der Behörde "bereinigte" Fragen an die Schule

Ulrich Kaschner

Fragen an das Kippenberggymnasium zur Sachverhaltsaufklärung im Falle Gregor Rothermel

1. Ist es richtig, dass Herr Schröder die Beurteilungsunterlagen zur "Herbstmappe'" bzw. die Herbstmappe selbst bereits zum Schulhalbjahreswechsel vernichtet hat? Wenn ja, wie wollte er die Nachvollziehbarkeit seiner Beurteilungen anders gewährleisten?

2. Ist es richtig, dass Herr Schröder von den Eltern von Gregor am 05.02.01 gebeten worden war (und er dem zugestimmt hat), dass er sie über die Entwicklung Gregors informiert? Wie hat er diese Vereinbarung in das Klassenkollegium getragen? Ist es richtig, dass Herr Schröder vor der Verwarnung die Eltern von Gregor nicht mehr über die Entwicklung berichtet hat? Wenn ja, warum nicht?

3. Ist es richtig, dass zum Elternabend am 21.03.01 drei Lehrer eingeladen und nur einer (nicht der Klassenlehrer!) gekommen ist? Wenn ja, warum?

4. Wer hat über die Verwarnung entschieden? Wie wird darüber vorher beraten? Ist über die Leistungsentwicklung mit Gregor gesprochen worden (s. auch Erl. zu § 8 VersO)? Wenn ja, in welcher Form?

5. Entsprach die Wertung des Englischtestes den schulinternen Richtlinien? Trifft es zu, dass sie Fragen enthielten, die die Schüler nicht beantworten konnten, weil sie noch nicht Gegenstand des Unterrichts gewesen waren? Wenn ja, wie wurden die Antworten bei der Beurteilung gewertet/berücksichtigt?

6. Welche pädagogischen Gespräche wurden in der Klasse 7a mit Eltern und Schülern generell geführt, wenn die Leistungsentwicklung eines Schülers oder einer Schülerin zu Besorgnis Anlass gab oder sonst auffällig war?

Die Fragen, die sich speziell auf Herrn Schröder beziehen (1 und 2), können und sollten nur von ihm beantwortet werden und über Herrn Gerlach (zumindest zunächst) nur an uns geleitet werden. Alle anderen Antworten sollte die Klassenkonferenz geben können.

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Dokument 8

Erneuter Versuch der Eltern Antwort auf die Fragen an die Schule zu erhalten

Sehr geehrter Herr Kaschner
Für Ihren Brief vom 7.6.2001 bedanken wir uns sehr, da er Verständnis für die mit dem tragischen Tod unseres Kindes verbundenen Fragen zeigt, auch was die Aufarbeitung der schulischen Bedingungen angeht, die ein Rolle gespielt haben.
Leider haben wir heute erfahren, daß es nun wahrscheinlich nicht zu der von Ihnen angekündigten Stellungnahme der Schule zu unseren (nach dem Gespräch mit Herrn Lückert und Ihnen präzisierten) Fragen unter Einbeziehung der Gespräche mit den Lehrern und den Elternvertretern kommen wird. Der Grund liegt wahrscheinlich in einer Art von Kommunikationsbarriere, so daß wohl der Schulleiter gezwungen ist, eine Stellungnahme ohne genauere Recherchen und ohne weitere Rücksprachen abzugeben. Hiermit sind wir aber nicht einverstanden, da es den Vorgängen nicht gerecht wird.
Aus diesem Grund möchten wir Ihnen unser Anliegen noch einmal verdeutlichen:
Unser Sohn hat sich wie auch andere Kinder beim Übergang in die 7. Klasse in einer für jeden Pädagogen erkennbaren Umbruchsituation befunden. Das ergibt sich nicht nur aus dem plötzlichen Leistungsabfall, sondern auch aus dem Ausscheiden einer ganzen Reihe von Kindern aus der Klasse während der letzten Monate. Verstärkt wurde dies dadurch, daß in mindestens einem Fach die Kinder zu ganz unterschiedlichen Zeiten mit dem Lernprogramm begonnen hatten, die einen also ganz am Anfang standen, während die anderen schon eine längere Unterrichtszeit hinter sich hatten. In dieser Lage musste es Aufgabe des Klassenlehrers und auch der anderen Lehrer sein, die Kooperation mit den Eltern bei versetzungsgefährdeten Kindern so früh wie möglich zu suchen und Eltern wie uns, die von selbst das Gespräch gesucht haben, auf Lernschwierigkeiten hinzuweisen und diese soweit wie möglich transparent zu machen. Nach unserer bisherigen Einschätzung ist dies nicht geschehen.
Wenn wir an unserer Bitte festhalten, die maßgeblichen Vorgänge in den letzten Wochen vor dem Tod unseres Sohnes Gregor auch von Seiten der Schule und der beteiligten Lehrer und Elternvertreter her aufzuarbeiten, dann geschieht dies nicht, um eine strafrechtliche Würdigung zu veranlassen, sondern um institutionell alle notwendigen Folgerungen aus dem Tod unseres Kindes zu ziehen, gerade auch durch einen verbesserten Umgang mit Lernschwierigkeiten in solchen Umbruchsituationen. Dazu gehört auch, daß sich die Schule der Aufgabe stellt, sich mit den Problemen der Hochbegabten adäquat auseinanderzusetzen.
Wir sind es uns auch unserem Sohn und dem Bild, das er sich von sich, seinen Eltern und der Schule gemacht hat, schuldig, daß wir hier akribische Nachfrage halten. Unseres Erachtens können sich auch die Schulaufsicht und die Beteiligten an der Schule dieser Aufgabe nicht entziehen. Sollte der Klassenlehrer (und evtl. andere Fachlehrer) hier unter fälschlicher Berufung auf ihr angebliches eigenes Schutzbedürfnis eine Darstellung verweigern, so würde ich Sie bitten, dagegen dienstrechtliche Schritte zu unternehmen.
Wir hoffen sehr, daß sie uns bei dieser Seite unserer Trauerarbeit unterstützen.
mit freundlichen Grüßen

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Dokument 9

Der schulinterne "runde Tisch"

Gespräch Runder Tisch Kippenberg
am 21.06.2001

1. Was ist bisher getan worden?

  • Es wurde mit allen Klassen gesprochen und auf Beratungsstellen hingewiesen: einfühlsam und hilfreich; häufige Gespräche.
  • Elterntreffen mit einem Seelsorger; (alle Elternvertreter waren eingeladen)
  • Beratungsgespräche in der Schule
  • Gespräch mit Pastor Walther und SchülerInnen der Klasse 7a
  • Kondolenzbuch der Schüler, mit und ohne Unterstützung von LehrerInnen (wird z.Z. gebunden)
  • Gespräch mit SV und Beratungslehrerin

(Schülersicht)

  • Gespräche zwischen Schulleitung und den LehrerInnen der Klasse 7a
  • Gespräch mit Schulpsychologen und LehrerInnen aus Klasse 7a
  • Informelle Gespräche unter KollegInnen
  • Klassenelternabend 7a

2. In welchen Bereichen müsste aus Ihrer Sicht etwas getan werden?

2.1. Eltemvorschläge:

  • Mehr Informationsaustausch; Zielsetzung zu Beginn der 5. Klasse vermitteln
  • Transparenz
  • Elternkompetenzen einbeziehen
  • Elternmitarbeit stärken
  • Viele kleine Pflänzchen, die vielleicht schon existieren, "gießen"
  • Gemeinsames Bild von Verantwortlichkeit für die Schule

2.2. LehrerInnen:

  • Zeit für KlassenlehrerInnen (Klassenlehrerstunde) zum Besprechen von Problemen
  • Profilierung der Schule ... (?)
  • Verlässlichkeit von Strukturvorgaben

Womit wollen Sie nach den Ferien beginnen?

Was?

Wer?

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Dokument 10

Brief des Elternbeirat vor den Sommerferien

Kippenberg - Gymnasium
Schulelternsprecherinnen

Liebe Eltern am Kippenberg Gymnasium!
Wir möchten uns zum Schuljahresende an Sie wenden.

Der Freitod von Gregor Rothermel im Mai diesen Jahres hat uns alle - Schüler, Lehrer und Eitern - wie ein Blitzschlag getroffen und das Innenleben der Schule für einige Zeit gelähmt. Wir waren alle zusammen entsetzt und fassungslos, und es dauerte lange, bis wir daran gehen konnten, uns zu überlegen, ob und was sich im Lebensraum Schule ändern muß.

Es haben unzählige Gespräche stattgefunden, teils unter Beteiligung von Behördenvertretern und unter der Moderation von Pastoren aus der Gemeinde, auch ein Gespräch von Elternvertretern mit einem Pastor der Notfallseelsorge, in dem der Wunsch nach diesem Brief aufkam.

In besonderem Mitgefühl denken wir an Gregors Familie, deren Trauer und Verlust wir nicht lindern können. Aber wir können den Auftrag im nächsten Schuljahr erfüllen, das Miteinander und Füreinander an der Schule im Sinne unseres Schulprogrammes zu intensivieren.

Es ist uns wichtig, im normalen Alltag und besonders in kritischen Situationen das Gespräch untereinander zu führen - zwischen den Eltern, mit unseren Kindern und zwischen Eltern und Lehrerschaft. Das soll auf kurzem und unkompliziertem Wege geschehen - in unserem gemeinsamen Interesse am Schulleben, in dem ein Wohlgefühl möglich sein soll.
Daran mitzuhelfen bitten wir Sie alle.

Mit den besten Grüßen und Wünschen für schöne Ferien grüßen wir Sie herzlich,

für den Elternbeirat
Ihre
Karin Kiese und Christiane Rieve

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Dokument 11

Buch der Schüler

Direkt nach dem Tod von Gregor hat die Schülervertetung des Kippenberg-Gymnasiums ein Trost- und Beileidsbuch für die Eltern ins Leben gerufen. Jede Klasse, die daran Interesse hatte, hat für die Elten eine oder mehrere Seiten gestaltet, mit Texten, Gedichten und Bildern. Viele Schülerinnen und Schüler haben ihre Gedanken darin zum Ausdruck gebracht, viele davon kannten Gregor kaum oder gar nicht. Irgendwann nach den Sommerferien wurde dieses Buch den Eltern überreicht. Es ist ein Buch der Schüler und nicht der Schule. Es wird für uns, die Eltern, immer ein Zeichen der Freundschaft und der Versöhnung sein.

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Dokument 12

Erster Brief des Rechtsanwaltes an die Behörde vom 29.8.01

Sehr geehrter Herr Kaschner,

in vorstehender Sache zeige ich ausweislich der beigefügten Vollmacht an, dass ich die Interessen von Frau Cerna und Herrn Rothermel vertrete.

Das Ziel meiner Beauftragung ist es, die Umstände im schulischen Leben von Gregor zu erhellen, die seinem Suizidentschluss vorausgingen. Hierbei ist bereits bei derzeitigem Kenntnisstand nicht auszuschließen, dass im Ergebnis der Sachaufklärung rechtliche Schritte eingeleitet werden müssen.

Zum derzeitigen Befunde ist festzuhalten, dass hinsichtlich der Sachaufklärung die hierzu bestimmten Personen und Organe des Kippenberg-Gymnasiums sich schlicht entziehen. Nicht nur, dass dieses Verhalten die trauernden Eltern brüskieren und verletzen muss, wiederholt sich somit auf tragische Weise die offensichtliche Hilflosigkeit Gregors am Beispiel der Eltern.

Diese forsche Ignoranz gegenüber den eigenen schulpersonellen wie fachdidaktischen Problemen muss im wohlverstandenen Interesse aller Beteiligten sofort beendet werden. Auch dürfte sonst die auf diese Art provozierte Vertuschungsvermutung mit jeder weiteren zeitlichen Verzögerung immer schwieriger zu entkräften sein

Ich darf Sie daher im ersten Schritt zunächst bitten, gegenüber der Schule anhand des Ihnen bekannten Fragenkataloges dessen umgehende Beantwortung durch die betreffenden Lehrkräfte einzufordern. Bitte teilen Sie mir auch umgehend schriftlich mit, ob Sie sich hierzu in der Lage sehen und welches Prozedere sich Ihrer Ansicht nach hieraus entwickeln soll. Für Ihre Antwort habe ich mir eine Wochenfrist notiert und verbleibe bis dahin


mit freundlichen Grüßen


Rechtsanwalt

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Dokument 13

erster Brief Kippenberg an Behörde

Kippenberg - Gymnasium

An den Senator für Bildung

Sachverhaltsaufklärung im Fall Gregor Rothermel
Ihre Anfrag vom 12. Juni 2001


Sehr geehrter Herr Kaschner,

nachdem ich Ihre Fragen bereits in der Sitzung in der Schulbehörde am 28. Juni mündlich beantwortet habe, fasse ich die Antworten im Folgenden verabredungsgemäß noch einmal schriftlich zusammen.

1. Die Herbstmappe hatte Gregor schon am 10.1.2001 zurückerhalten. Sie enthielt eine Beurteilung. Seine speziell auf die Mappen einzelner Schüler bezogenen Notizen hatte Herr Schröder zum Zeitpunkt des Gesprächs mit Gregors Eltern am 5.2. 2001 bereits vernichtet. Die allgemeinen Kriterien, nach denen Herr Schröder diese Schülerarbeiten beurteilte, hat er mit Gregors Eltern besprochen. Er kann sie auch jetzt noch vorlegen.

2. Es gab nach dem 5.2. häufiger telefonische Kontakte zwischen Frau Cerna in ihrer Funktion als Klassenelternsprecherin und Herrn Schröder. Dabei fragte Frau Cerna nicht nach Gregors schulischer Situation, und aus Herrn Schröders Sicht gab es auch keine besonderen Vorkommnisse oder Enwicklungen, die er hätte ansprechen müssen.

3. Am Elternabend am 21. März waren anwesend Herr Schröder (Deutsch und Englisch) und Herr Sonntag (Mathematik). Ebenfalls eingeladen aber nicht anwesend waren Herr Giesewetter (Sport) ,und Frau Brost (Geschichte), die sich für ihr Fembleiben nachträglich entschuldigte.

4. Über Verwarnungen wegen einer Gefährdung der Versetzung beraten und beschließen am Ende des ersten Halbjahres die Zeugniskonferenzen. Dabei werden die Kriterien ausführlich erörtert. In unklaren Fällen wird die Entscheidung auf den Zeitpunkt 8 Wochen vor der Versetzungskonferenz verschoben. Zur Vorbereitung dieser "Nachverwarnungen" tragen die Lehrkräfte entscheidungsrelevante Veränderungen des Leistungsstandes der Schülerinnen und Schüler in Listen ein. Diese Listen wertet der Klassenlehrer aus und entscheidet aufgrund der bekannten Kriterien, in welchen Fällen eine "Nachverwarnung" erfolgt. In unklaren Fällen nimmt er Rücksprache mit dem Schulleiter.
Herr Schröder sprach mit Gregor darüber, daß seine Versetzung gefährdet war und daß seine Eltern darüber schriftlich benachrichtigt werden würden. Eine solche Benachrichtigung sei aber keineswegs eine Vorentscheidung in Richtung Nichtversetzung, sondern eine Chance und eine Ermunterung, nun in den letzten Schuljahrswochen die Leistungen noch zu verbessern.

5. Die Wertung des Englischtests entsprach den schulischen Richtlinien.
Ein Test enthielt in einem Aufgabenteil in drei von 15 umzuformenden Sätzen unbekannte Vokabeln. Die volle Punktzahl konnte durch die richtige Umformung von 12 Sätzen erreicht werden.

6. Generell wird in diesen Fällen in allen Klassen versucht, die Ursachen von Lernhemmnissen aufzudecken und Verbesserungsmöglichkeiten zu benennen. Wo es angezeigt ist, wird auch die Wahl einer anderen Schulart empfohlen.


Mit freundlichen Grüßen,
Gerlach
Schulleiter

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Dokument 14

Zweiter Brief der Schulbehörde an die Eltern vom 7.9.2001

Der Senator für Bildung und Wissenschaft

Sehr geehrte Frau Cerna sehr geehrter Herr Rothermel,
ich komme zurück auf das letzte Gespräch, das Sie am 9. Juli mit Herrn Kaschner geführt haben.

Herr Kaschner sicherte Ihnen zu, mit Herrn Schröder und Frau Kornberger nach den Sommerferien ein dienstliches Gespräch zu führen, "mit dem Ziel, möglichst schnell einen Abschluss in der Aufarbeitung dieses tragischen Einzelfalls herbei zu führen, um davon unbelastet die perspektivische Arbeit der Schule in Angriff zu nehmen" (Zität aus dem internen Gesprächsvermerk von Herrn Kaschner).

Ich möchte Sie darüber informieren, dass ich in der kommenden Woche diese dienstlichen Gespräche führen werde. Erlauben Sie mir dabei bitte, noch einmal auch Ihnen gegenüber ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass diese Gespräche wie auch alle vorhergehenden Gesprächsrunden, die ich durchgeführt habe, keinesfalls zum Ziel haben und haben können, die Schuld an dem Freitod Ihres Sohnes zu klären. Ich hatte Sie allerdings auch bisher so verstanden, dass Sie dies nicht von mir erwarten. Es wäre vermessen, mir die Rolle eines Richters über Ursachen oder gar Schuld des Freitods eines Jugendlichen anzumaßen. Hierüber zu entscheiden ist in der Vielschichtigkeit der äußeren und inneren Einflüsse, denen Jugendlichen in Krisensituationen unterliegen, objektiv nicht möglich, schon lange kann und darf es nicht meine Aufgabe sein, insoweit auch nur den Versuch zu wagen.

Ich betone dies deswegen noch einmal, weil zumindest unter den Lehrkräften des Kippenberg-Gymnasiums hier ein gravierendes Missverständnis zu bestehen scheint. Meine Aufgabe kann nur sein, in meiner Verantwortung für den Dienst der Lehrkräfte und für die pädagogische Arbeit der Schule einerseits auf eine angemessene pädagogische Reaktion der Schule zu achten, andererseits auch die Korrektheit dienstlichen Verhaltens einzelner Lehrkräfte zu hinterfragen und ggf. Konsequenzen zu ziehen.

Ich hoffe auf Ihr Verständnis, dass ich dies noch einmal klar gestellt habe. Auch werde ich dieses Schreiben der Schulleitung des Kippenberg-Gymnasiums zur Kenntnis geben, weil ich der Überzeugung bin, dass es sehr zur notwendigen Klarheit beiträgt.


Ich werde in nächster Zeit auch auf Ihre an die Behörde gerichteten Fragen antworten.

Mit freundlichen Grüßen, im Auftrag
Gernot Lückert

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Dokument 15

Antwortschreiben des Rechtsanwaltes der Eltern vom 17.9.2001

Sehr geehrter Herr Kaschner,

ich habe inzwischen das Schreiben des Herrn Lückert aus der senatorischen Behörde von meiner Mandantschaft erhalten und darf hierzu folgendes bemerken:

Die Lektüre des vorgenannten Schreibens hat mich dabei einigermaßen überrascht, sowohl hinsichtlich seiner Diktion als auch seines Inhaltes. Die von Herrn Lückert eingangs seines Schreibens zitierte Passage aus Ihrem Gesprächsvermerk fasse ich dabei als Prämisse Ihres aufsichtsrechtlichen Handelns auf. Die Problematik ergibt sich aus der dort niedergelegten Zweckbestimmung: Schneller Abschluss des tragischen Einzelfalles, um davon unbelastet die perspektivische Arbeit der Schule in Angriff nehmen zu können.

Zunächst einmal ging und geht es nicht um schnellen Abschluss, sondern schnelle Inangriffnahme der fälligen Aufarbeitung. Gerade diese wurde von der Schule bisher nicht geleistet.

Und was bedeutet in diesem Zusammenhang „unbelastet“? Dass gerade die Last bei allen schulisch Beteiligten vorhanden ist, zeigt doch die bisherige Reaktion. Dieser Last ist doch nur dadurch zu begegnen, als die konkreten Abläufe der Schule im Zeitraum der letzten Monate bis zum tragischen Suizid Gregors im Hinblick auf das tatsächliche Handeln der Beteiligten hinterfragt werden. Der Begriff „Lebensraumes Schule“ aus dem Schulgesetz drückt dabei das Beteiligtenverhältnis treffend aus.

Hierin liegt die nachwirkende Verantwortung der Schul- und Aufsichtsorgane, deren Wahrnehmung unabdingbare Voraussetzung auch einer möglichen Entlastung ist. Gerade wenn es so ist, dass sich Lehrkräfte unter Berufung auf die enorme Last dem zunächst über Konferenzen vorgesehenen Aufarbeitungsprozess entzogen haben, kann nicht im schnellen Abschließen, sondern im konkreten Sich-Stellen der Ausgangspunkt der perspektivischen Arbeit gesehen werden. Die Beteiligten müssen daher die in der gemeinsamen Rekonstruktion von Sachverhalten liegende Chance sehen und aufgreifen.

Stattdessen werden bisher neue Sachverhalte konstruiert:

Die in obigem Schreiben eingefügten langen Ausführungen über die Schuldfrage unterstellen einen Vorwurf, der von meiner Mandantschaft nicht geäußert wurde und gehen daher an der Sache vollständig vorbei. Insofern kann für dieses „Klarstellen“ das reklamierte Verständnis nicht erwartet werden.

Das gilt auch für die von Ihnen abgelehnte „Richterrolle“. Auch diese wurde selbstverständlich nicht von Ihnen erwartet. Hierin veranschaulicht sich aber das Bild der sich streitenden Parteien, wobei am Ende einer von beiden Recht zu geben ist. Auch dieses Bild geht an der Sache vorbei. Hier geht es vielmehr darum, im zusammenwirkenden Erziehungsprozess von Elternhaus und Schule sich seiner jeweiligen Verantwortung auch zu stellen. Hierzu dienen die Fragen, die meine Mandantschaft an die Schule gestellt hat. Sie angemessen zu beantworten, kann daher kein nachrangiges Interesse aller Beteiligten sein. Sollten sich im übrigen dienstrechtliche Konsequenzen aus der Sachverhaltsaufklärung ergeben, sind auch diese im Interesse der weiteren schulischen Entwicklung zu ergreifen. Schließlich muss sich die auch der Schule innewohnende Schutzfunktion an den Bedürfnissen seiner schwächsten Glieder orientieren. Das sind nicht die Lehrer.

Letztlich macht das gesamte Schreiben an meine Mandantschaft keinen Sinn. Um die Eingangsbemerkung aufzugreifen, richtet es sich seinem Inhalt nach an das Kippenberg-Gymnasium, vermittelt über ein Schreiben an die Eltern. Es signalisiert dabei in problematischer Weise ein internes Einverständnis, die ‚leidige’ Angelegenheit schnellstmöglich vom Tisch zu bekommen.

In der Hoffnung, dass dieser Eindruck trügt und unter Hinweis auf die Beachtung des bestehendes Mandats,

verbleibe ich


mit freundlichen Grüßen


Rechtsanwalt

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Dokument 16

Tagebucheintrag nach dem 1. Treffen mit Bildungsenator Lemke.

Dieses Treffen wurde angeregt durch einen Besuch bei Dr. Heubrock, den wir wegen des Zusammenhanges von Legastenie und Hochbegabung befragten.

Das Treffen mit Lemke heute war sehr merkwürdig. Er fragte als erstes ob Lückert dabei sein solle, wir sagten eher nein, denn Lückert habe ja auch schon durch seinen letzten Brief etwas Eigenartiges in diese ganze Angelegengheit gebracht. Lemke war total einverstanden. Eigentlich zeigte er sich als jemand, der sehr klar ist und auch zuhören kann. Er fragte nach, wo er etwas nicht verstand, verteidigte zwar auch die Schule, war aber völlig damit einverstanden, daß hier ein völliges Versagen vorliegt.
Er meinte, dass sei sehr gut, daß wir zu ihm jetzt gekommen seien; die Einschaltung eines Rechtsanwalts sei eher problematisch, weil sich dann die Betroffenen demgegenüber wieder unsicher und abweisend verhielten.
Wir referierten kurz nochmals den Sachverhalt, sprachen dann auch über das Problem der Hochbegabung, Lemke habe auch sein Kind vom Kippenberg weggenommen und ans ÖG geschickt. Auch er habe Schwierigkeiten mit der menschlichen Dimension der Lehrer am Kippenberg. Letztlich hat er sich aber über das Problem der Hochbegabung nicht wesentlich geäußert. Aber: Man müsse unbedingt darauf achten, daß man daraus für die Zukunft lernt, und unser Anliegen müsse unbedingt respektiert werden, wir haben ein Recht darauf, die Fragen beantwortet zu bekommen und nicht erst nach vier Monaten.
Ich habe dann auch noch meine Problematik als Lehrer ins Spiel gebracht: wie soll ich mich diesem Beruf gegenüber verhalten, wenn mir soetwas als Rechtens vorgeführt wird?

Hinterher hat Lemke sofort Lückert herbeizitiert um ihm klar zu machen, daß da etwas geschehen muß. Wir werden von ihm (Lückert) sehr schnell (allerdings keine Frist) die eingeforderten Antworten bekommen, dann sollen wir noch einmal mit ihm, Lemke, Kontakt aufnehmen, es soll dann zu einem zweiten Gespräch kommen.

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Dokument 17

Brief des Kippenberg Gymnasiums mit den Antworten auf die Fragen der Eltern vom 22.10.2001 - weitergeleitet an die Eltern am 20.11.2001

Kippenberg - Gymnasium

An den Senator für Bildung

Sachverhaltsaufklärung im Fall Gregor Rothermel
Ihre Anfrag vom 12. Juni 2001

Beantwortung der "Fragen an die Schule, nach dem Gespräch vom 5.6.2001" (Die Numerierung entspricht den Ziffern auf der beigefügten Kopie des Frage-Schreibens.) - (siehe Dokument 4 dieses Archivs - Der Verfasser)

1.1 Es gab mehrfach Gespräche zwischen Herrn Schröder und Frau Cerna in ihrer Eigenschaft als Elternsprecherin. Dabei ging es nicht um Gregor. Herr Schröder sah keine Veranlassung, da sich Gregors Situation nicht verändert hatte, und Frau Cerna stellte auch keine entsprechenden Fragen.
1.2 Die Situation wurde von Herrn Schröder nicht als dramatisch eingeschätzt. Er hielt ihn auch in Englisch nicht für "äußerst gefährdet".
1.3 Von Gregors Hochbegabung erfuhr Herr Schröder erst nach Gregors Tod durch ein Gespräch mit Kollegen, die Gregor in der OS unterrichtet hatten.
1.4 Herr Schröder hielt es für ausreichend, daß er mit den Schülern, deren Versetzung gefährdet zu sein schien, persönlich sprach und ihnen den Sinn der Nachverwarnung (keine "Vorverurteilung", sondern Chance) erläuterte.
1.5 Der 18.4. war der erste Tag nach den Osterferien. Herrn Schröder lagen die Angaben der Fachlehrer noch nicht vor. Die Eintragung der entscheidungsrelevanten Noten sollte bis zum 20.4. erfolgen.
1.6 siehe oben
1.7 vermutlich ein Mißverständnis von Herrn Pallaschke (dem Kriminalbeamten, der den Fall Gregor bearbeitete - der Verfasser)


2.1 Herr Schröder hat seine Kriterien am 5.2. Gregors Eltern erläutert.
2.2 Das Schreiben eines Gedichts war keine zusätzliche Leistung Gregors. Die gesamte Klasse hatte diese Anweisung. Den Artikel in der Zeitschrift "Mix" zeigte Gregor Herrn Schröder beiläufig in einer Pause. Er wurde nicht berücksichtigt, da er nicht in einem schulischen Zusammenhang geschrieben worden war.
2.3 Herr Schröder schrieb unter jede Arbeit einen ausgewogenen Kommentar.
2.4 Herr Schröder vermutet hier ein fehlendes Vorverständnis der Eltern. Er hat am 5.2. mit ihnen auch über die Kriterien der Korrektur gesprochen.

3.1 Ein Vokabeltest (Note: 5) wurde am 21.3. geschrieben und am 22.3. zurückgegeben; eine Klassenarbeit (Note: 5) wurde am 24.4. geschrieben und am 2.5. zurückgegeben.
3.2 Die Arbeit enthielt einige Sätze mit unbekannten Vokabeln. Die volle Punktzahl war aber auch dann erreichbar, wenn diese Sätze nicht oder falsch bearbeitet wurden.
3.3 Nicht mit Sicherheit auszuschließen; jedenfalls nicht zensurenrelevant.
3.4 Der Test durfte gewertet werden, da nicht mehr als ein Drittel der Klasse schlechter als ausreichend geschrieben hatte.
3.5 Der Begriff "grenzwertig" ist unklar.
3.6 Nein
3.7 Es wurden keine Vergleichsarbeiten geschrieben.


4.1 Es bestand keine Veranlassung dafür. Von 34 Schülerinnen und Schülern hatten nur vier geringfügige Vorkenntnisse.
4.2 siehe 3.5
4.3 In der vierten Klassenarbeit haue Gregor im Februar eine "4" geschrieben. Die 5. Klassenarbeit am 9. März schrieb er nicht mit, da er krank war. Danach erkrankte die Lehrerin bis zu den Osterferien (23.3.).
4.4 Es gab dafür keine Veranlassung.
4.5 Es ist unklar, um welche "Notenaufstellung" es sich handelt.


5.1 Herr Sonntag hat mit Gregor gesprochen (auf der Bank im Pausenflur). Erörtert wurde, daß Gregor zu häufig abgelenkt war und so am stringenten Mitdenken gehindert wurde.
5.2 Herr Sonntag sah dafür keinen Bedarf, da Gregor sich verständig zeigte.
5.3 ??
5.4 Das Ergebnis der Arbeit war "knapp ausreichend". Die Arbeit liegt in der Schule und kann den Eltern auf Wunsch zugesandt werden.


6.1 Üblicherweise werden Mitteilungen über die Gefährdung der Versetzung schriftlich gemacht. Sie enthalten ein Gesprächsangebot an die Eltern.
6.2 siehe Punkt 4 meines Schreibens vom 24.7.2001 an die Schulbehörde. In diesem Fall hat Herr Schröder mit dem Schulleiter Rücksprache gehalten.
6.3 Ja. Bei der Note "mangelhaft" in zwei Hauptfächern und "schwach ausreichend' in einem weiteren wird in jedem Fall eine Verwarnung ausgesprochen.
6.4 siehe 6.2
6.5 Frau Kornberger schilderte Herrn Schröder die Situation (siehe Punkt 4); Fazit: Die Fünf sei "noch nicht sicher vom Tisch".
6.6 In beiden Fächern läßt sich die zum Stichtag 20.4. erteilte "5" aus den seit Beginn des Schuljahrs erteilten Einzelnoten begründen.
6.7 Schriftliche Noten in Englisch: Klassenarbeiten: 5/4-/5/4/5; Tests: +/+/-/-/5.
6.8 Frau Kornberger erhielt den Brief erst am 4. Mai; den an Herrn Sonntag gerichteten Brief fanden Gregors Eltern nach dem Tod ihres Sohnes in seiner Schultasche.
6.9 Ja
6.10 siehe oben Punkt 1.3

Bremen, den 22.10.2001 gez. Gerlach

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Dokument 18

Dritter Brief der Schulbhörde an die Familie (über RA) vom 14.11.01

Gregor Rothermel

Sehr geehrter Herr Rethmeier,

in der Anlage <siehe Dokument 17> übersende ich Ihnen Antworten der Schule auf die Fragen der Familie Rothermel, die diese nach dem Gespräch am 5.6. in der Schule formuliert hat. Ich füge auch die Stellungsnahme der Schule (vom 24.7.) zu ergänzenden fachaufsichtlichen Fragen (vom 12.6.) bei. Eine Abklärung hat ergeben, dass es "grenzwertige" Klassenarbeiten in dem Sinne nicht gegeben hat, dass 1/3 oder mehr der Arbeiten mit mangelhaft oder schlechter beurteilt wurden.

Die Abklärung der sich auf den Fachunterricht beziehenden Fragen ist damit nach meiner Auffassung ausreichend geleistet.

Eine andere Einschätzung besteht seitens des Senators für Bildung und Wissenschaft in Bezug auf die Zusammenarbeit der Lehrkräfte, insbesondere des Klassenlehrers mit den Eltern und in Bezug auf die schulischen Verfahren bei einer gefährdeten Versetzung. Insbesondere hierüber habe ich daher in der Zwischenzeit mit dem Klassenlehrer und der Lateinlehrerin jeweils zusammen mit dem Schulleiter dienstliche Gespräche geführt.

Ergänzend zu den o. g. schriftlichen Darstellungen der Schule haben diese Gespräche ergeben:

1. Der Klassenlehrer hat es versäumt, von sich aus die Eltern über Gregors Lernentwicklung zu informieren. In jedem Fall hätte er die Eltern in einem Gespräch über die bevorstehende Nachverwarnung informieren müssen, und zwar bevor er hierüber mit Gregor gesprochen hat.


2. Der Schule ist klar geworden, dass insbesondere die Klassenlehrer nicht nur auf Nachfragen hin eine Informationspflicht gegenüber den Eltern haben, sondern bei kritischen Entwicklungen von sich aus die Eltern ansprechen über die Lernentwicklung informieren müssen. Dies gilt selbstverständlich in besonderer Weise, wenn es - wie bei Ihren Mandanten - zwischen Lehrkräften und Eltern ausdrücklich verabredet wurde.

3. Die Schule wird das Verfahren der Benachrichtigung über eine gefährdete Versetzung in der Weise ändern, dass sie die Eltern auch in Zweifelsfällen schon zum Halbjahrestermin über eine möglicherweise gefährdete Versetzung informiert und insbesondere notwendige "Nachverwarnungen" in jedem Falle im Rahmen eines Beratungsgesprächs mit den Eltern vermittelt werden.

4. Dabei ist weniger entscheidend die Förmlichkeit des Beschlussverfahrens einer Verwarnung, sondern vielmehr die umfassende Information der Eltern über Lerndefizite sowie über mögliche Hilfen und Unterstützung für den weiteren Lernprozess, weil das Ziel auch einer Nachverwarnung die Abwendung einer drohenden Nichtversetzung ist und nicht etwa ein Vertrautmachen der Eltern mit einer nicht mehr abwendbaren Wiederholung. Von daher ist es sinnvoll, das Verfahren der Nachverwarnung in die Obhut des Klassen-lehrers zu geben und es nicht an förmliche Beschlüsse zu binden. Dazu muss er sich ein möglichst vollständiges Bild machen über die Lernentwicklung der schwächeren Schüler. Im Zweifel kann und soll sich der Klassenlehrer vor einer Information der Eltern, wie auch bei Gregor geschehen, mit einem Mitglied der Schulleitung beraten.

5. Bei Gregor hat es im zweiten Schulhalbjahr keine dramatische Entwicklung der Lernsituation gegeben, vielmehr bewegten sich seine schulischen Leistungen weiter etwa auf dem Niveau, das bereits das Halbjahreszeugnis widerspiegelt. Letztlich hat sich der Klassenlehrer nach Beratung mit dem Schulleiter zu einer Benachrichtigung der Eltern entschieden, weil bis zu den Osterferien die für eine gesicherte Versetzung notwendige positive Entwicklung seit dem Halbjahreswechsel nicht eingetreten war. Nicht die Beurteilung Gregors Lernsituation zu diesem Zeitpunkt und die getroffene Entscheidung waren demnach falsch, sondern die vom Klassenlehrer gewählte Form und Abfolge der Information hierüber und vor allem die fehlende Kommunikation mit den Eltern in diesem Zeitraum.

Über die o.g. dienstlichen Gespräche hinaus hat es eine Reihe weiterer Gespräche mit der Schulleitung gegeben, um die weitere Aufarbeitung mit der Schule - auch im Blick auf die von Ihren Mandanten aufgeworfenen Fragen - abzustimmen.

Bei allem Verständnis für die schwierige Situation Ihrer Mandanten nach dem Freitod ihres Sohnes kann ich jedoch die sehr grundsätzlichen Einschätzungen und Voreinstellungen der Eltern nicht akzeptieren, die teilweise aus ihren Fragen an die Schulbehörde deutlich werden. Die Formulierung der Fragen vermittelt die Auffassung, die jetzige Lehrergeneration sei im Umgang mit den Kindern der unteren Klassen generell überfordert, sie hätte nichts mit den jungen ... Schülern gemein, seien verschlissen und würden neuen Herausforderungen lustlos begegnen und die Kinder einem sinnlosem Leistungsdruck aussetzen.

Ich nehme allerdings Sorgen von Eltern ernst, die Arbeits- und Unterrichtssituation in Schulen sei durch eine Überalterung von Kollegien, Überlastung vieler engagierter Lehrkräfte bzw. fehlendem Engagement anderer, durch nicht schulstufengemäßen Einsatz von Lehrkräften, zu hohem Leistungsdruck infolge schlechter Lernbedingungen beeinträchtigt.

Daher ist dem Kippenberg-Gymnasium eine externe Beratung und Unterstützung angesichts der hohen Arbeitsbelastung durch mehrere Entwicklungsaufgaben (weitere Entwicklung des Kunst- und Musikprofils; Entwicklung eines verkürzten gymnasialen Bildungsgangs; Qualitätsentwicklung der Abiturprüfung; Weiterentwicklung des Kurssystems der gymnasialen Oberstufe) fest zugesagt.

Das Kippenberg-Gymnasium ist zudem eine der Schulen, deren Kollegium einen besonders hohen Altersdurchschnitt aufweist. Die Personalentwicklung der Schule findet daher in meinem Hause besondere Beachtung.

In die Beurteilung der Gesamtsituation der Schule beziehe ich auch die vergleichsweise hohen Frequenzen der Lerngruppen vor allem in den unteren Jahrgangsstufen, in denen die Zusammenarbeit mit den Eltern in besonderer Weise erforderlich und zeitaufwändig ist, sowie die Überauslastung des gesamten Gebäudes ein. Es ist meine Absicht, vor allem durch ein erweitertes Angebot von Klassen im Umfeld der Schule das Kippenberg-Gymnasium in den nächsten Jahren zu entlasten.

Zusammenfassend kann ich Ihnen und Ihrer Mandantschaft meine Entschlossenheit versichern, durch eine Reihe sehr konkreter schulbezogener Maßnahmen und durch konkrete behördliche Entscheidungen und Unterstützungsmaßnahmen eine positive Entwicklung des Kippenberg-Gymnasiums auf den beschriebenen Feldern zu erreichen.

Mit freundlichem Gruß
Im Auftrag

- Lückert -


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Dokument 19

Schulzeit - Bremer Schülerinnen TAZ extra 2001/2002 . November 2001

"Von manchen totgeschwiegen"

Der Selbstmord eines Mitschülers der siebten Klasse erschütterte die Schülerinnen und Schüler des Kippenberg Gymnasiums im Mai dieses Jahres. Wir haben - sechs Monate danach - mit Schülern gesprochen, um zu erfahren, wie an der Schule damit umgegangen wurde...
Herr S. ist reingekommen, war erst mal eine Minute ruhig und hat dann gesagt: Ihr wisst ja, dass heute jemand fehlt. Der Gregor hat sich gestern Nachmittag das Leben genommen. Dann waren erst einmal alle ruhig und er meinte, dass wir auch nach draußen gehen können, wenn wir wollen. Das haben auch alle gemacht. Wir saßen dann da oder sind herumgelaufen.
Da kam so ein Lehrer rein, hat sich da vorne hingesetzt und einfach gesagt, Gregor ist tot. Das war s. Den Lehrer kannten wir gar nicht. Erst mal haben wir einen Schock gekriegt, aber richtig realisiert hat man das ganze erst am nächsten Tag erst denkt man, der kommt im nächsten Augenblick in die Klasse und alles war nur ein schlechter Witz.

Was haben sich die Schüler untereinander für Gedanken gemacht?
Wir haben uns alle gefragt, warum. Wir konnten es gar nicht verstehen. Er hatte auch immer ganz viel Freunde, innerhalb und außerhalb der Klasse.
Wut und Trauer mischt sich bei den beiden Schülern der damaligen 7a, wenn sie an den 8. Mai 2001 zurückdenken, denn das Verhalten der Lehrer können sie nicht leicht verstehen. Der Klassenlehrer blieb sachlich und fragte (nur) nach Hinweisen, mit Beratungslehrern sprachen sie gar nicht,
nur einmal mit einem Pastor und einem Polizisten, der uns seine Karte gegeben hat. Die haben uns gefragt, ob wir irgendetwas an Gregor bemerkt hatten, aber dabei ist nichts herausgekommen. Dann haben sie uns gesagt, dass er sich erhängt hat. Es weiß aber keiner, warum. Der Pastor meinte auch, wir sollten zu ihm kommen, wenn wir Probleme hätten.
"Das hat sie gestärkt" wird der Schulleiter im Weser Kurier zu den Gesprächen mit einem Pastor der Friedensgemeinde zitiert. Eine der 'gestärkten Schülerinnen':
Da saßen wir dann alle in einer Runde und er laberte irgend etwas von wegen Seelsorge und dass wir ihn gerne anrufen könnten, wenn wir nicht mehr weiter wüssten.
Darüber, wie sie mit dem Tod ihres Mitschülers umgehen sollten,
wurde überhaupt nicht gesprochen. Das haben sich die Lehrer eher selbst gefragt. Ein Lehrer kam in die Klasse, meinte, das ist ja eine ganz tragische Sache, aber machen wir weiter. Einige haben es gar nicht angesprochen und so getan, als wäre nichts passiert.
Wurde denn das Thema Selbstmord oder Depressionen insgesamt einmal angesprochen?
Im Kunstunterricht wurde über die Vergänglichkeit geredet, aber nicht direkt über Gregor. Das betraf auch nur eine Halbgruppe.
Auch vom Schulleiter kam überhaupt nichts. Der ist reingekommen, hat gesagt: ,,Tut mir leid", und dass wir zur Polizei gehen sollen, wenn wir etwas wissen, aber das war’s auch schon.

Zum Gespräch des Schulleiters mit dem Weser Kuriers erzählt die Schülerin:
Erst mal hat sich die Schule so dargestellt, als wenn sie damit ganz super umgegangen wäre und alle Lehrer darüber geredet hätten, bloß weil sie ihren Ruf retten wollten. Es wird auch gesagt, dass das ein grauenvoller Artikel war, gar nichts über die vielen Gerüchte und deren Aufklärung zum Beispiel. Es wurde nur dargestellt, wie toll die Schüler dazu gebracht wurden, etwas zu tun, das zur allgemeinen Situation beitragen könnte.
In einem Leserbrief schreibt eine Schülerin der 7. Klasse:
In Wirklichkeit kann man im Großen und Ganzen nur von hilflosen bis fahrlässigen Reaktionen der Schulleitung und vieler Lehrer sprechen. Alle Fragen in Richtung Schule werden als Schuldzuweisung verstanden und abgeblockt; eine selbstkritische Hinterfragung findet nicht statt.
Solches oder ähnliches Verhalten wird vom Schulleiter dadurch erklärt, dass "Lehrer und Lehrerinnen keine Schulpsychologen oder Notfallseelsorger sind". Der Schülersprecher:
Wir denken aber auch, dass der Selbstmord in den meisten Klassen angesprochen wurde...... in einigen allerdings auch nicht. Die Schülersprecherin:
Das liegt dann wahrscheinlich daran, dass auch die Lehrer Schwierigkeiten hatten, mit dein Selbstmord umzugehen. Dadurch wurde es von manchen totgeschwiegen.
Dies muss jedoch nicht sein, wie uns ein Schüler der Klasse eines Vertrauenslehrers erzählt:
Ein paar Tage später, also als alle schon davon wussten, fragte er uns, ob wir darüber reden wollten. Wir konnten entweder etwas dazu sagen, oder, wenn wir anonym bleiben wollten, es aufschreiben. Auf die Zettel konnten wir auch schreiben "bitte nicht vorlesen". Ansonsten hat er sie vorgelesen.
Dieses Beispiel zeigt, wie man auf schlichte Weise allen die Möglichkeit geben kann, ihren Gefühlen und Gedanken Ausdruck zu verleihen. Und die Schüler wollten sich ausdrücken. Schülersprecher:
Aus einer Klasse kamen Schüler und schlugen vor, einen Trauergottesdienst oder eine Trauerveranstaltung in der Aula zu machen. Wir haben gemerkt, dass alle gerne ihre Trauer artikulieren wollten, und haben uns dann für ein Buch entschieden, in dem alle SchülerInnen die Möglichkeiten hatten, etwas zu malen, schreiben, dichten usw. Auch an den Beiträgen für das Buch, das wir später den Eltern überreicht haben, haben wir gesehen, wie intensiv viele SchülerInnen sich damit auseinandergesetzt haben und wie betroffen sie waren.
Die Schülersprecher berichten, dass sich die Lehrer, Schulleitung und Elternvertreter auch ihre Gedanken gemacht haben:
Wir haben uns mit BeratungslehrerInnen, Elternvertreterlnnen und der Schulleitung zusammengesetzt und überlegt, wie man damit umgehen soll. Es fanden auch Gespräche zwischen SchülerInnen, LehrerInnen, Elternvertreterlnnen und der Bildungsbehörde statt.
Davon kam bei den meisten Schülern nichts an. Die Schülersprecherin:
"Obwohl wir natürlich keine Spekulationen aufkommen lassen wollten, schwangen diese leider immer ein wenig mit. Hauptsächlich ging es in den Gesprächen darum, wie man den Schulalltag verbessern (und damit die Anonymität an der Schule verringern) und wie man darüber reden kann. Wir haben auch überlegt, ob im Unterricht Selbstmord generell thematisiert werden soll. Außerdem haben wir überlegt, unabhängig von dem Einzelfall eine kritische Diskussion über die Schule generell und über Verbesserungsmöglichkeiten des Schulalltags in Gang zu bringen, was allerdings bis jetzt leider nicht geklappt hat."


Anne Wigger, Clara Frick, Fanny Frick

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Dokument 20

Zweites Gespräch mit Senator Lemke

Das zweite Gespräch hatte zum Gegenstand, ob wir mit den Antworten der Schulbehörde zufrieden seien. Es war leicht und ebenso schwer, dies zu beantworten, selbstverständlich waren wir nicht damit zufrieden, wir wussten aber auch auf Grund der gemachten Erfahrungen, dass ein weiteres Insistieren genauso ins Leere laufen würde wie bisher. Der Senator war wieder sehr entgegenkommend, verstand unsere Position sehr gut, war aber selbst, wie er zugab, eher hilflos gegenüber dem behördlichen Zugriff. Die Behörde hatte Schreiben dem Senator gar nicht weitergeleitet, hatte an entscheidenden Stellen den Senator ungenau informiert. Der Senator bot uns ein drittes Gespräch an, aber für uns erschien so ein Kontakt nicht mehr hilfreich, hatte doch alles bisher keinen wesentlichen Wandel bewirkt. Das, was am Kippenberg-Gymnasium bisher geschah, war eher eine Farce, wirkliche Veränderungen hatte es nicht gegeben. Die allgemeine Hilflosigkeit gipfelte in der rhetorischen Frage des Senators, ob er den Schulleiter des Kippenberg-Gymnasiums feuern solle, und wir statt "ja" zu sagen, doch dieser Frage auswichen, weil sie genauso absurd erschien, wie alles andere zuvor. Wir hatten auch mit unserem Rechtsanwalt bereits erkannt, dass eine weitere gerichtliche Verfolgung dieser fürchterlichen Angelegenheit auch keinen Erfolg habe würde, da wir es waren, die nachzuweisen verpflichtet wären, dass das Versagen der Schule an Gregors Suizid schuld sei.

Wie sollte das geschehen? Selbstverständlich gibt es kein Versagen der Schule. Alles was dort geschehen war, war völlig korrekt. Es gibt überhaupt keinen Anlass, die Schule in Frage zu stellen, niemand braucht dort zur Rechenschaft gezogen zu werden.

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Dokument 21

Horror Vacui - Gründung der Initiative "Peace Gregor" Oktober/Dez 2001

Liebe Freunde,
Wir haben uns ganz lange nicht auf Euer Schreiben hin rühren können, allmählich können wir manchmal wieder atmen, auch wenn es noch sehr schwer geht.
Wir danken Euch sehr herzlich für die Zeilen, die Ihr uns geschrieben habt, die Hilfe, die Ihr angeboten habt.

Es ist uns dabei klar geworden, dass es eine große Schwierigkeit bedeutet, Hilfe anzunehmen, von der wir (und Ihr vielleicht auch) gar keine Vorstellung haben, wie die aussehen könnte.
Keiner weiß das. Keiner kann sich so etwas vorstellen, auch wir können uns das immer noch nicht wirklich vorstellen, dass Gregor nicht mehr bei uns ist - und das ist jetzt schon ein halbes Jahr.
Wir essen wieder, gehen spazieren, sitzen stundenlang da und wissen nicht was man sagen soll, alle Fragen und vermeintlichen Antworten wurden hundertmal gestellt und besprochen, Wir haben uns mit dem Tod beschäftigt, was das ist, wie er vielleicht sein könnte, wie diese Grenze aussehen mag, die Gregor da in seiner Verzweiflung überwunden hat.

Es ist uns bei allen Überlegungen immer wieder klar geworden, dass es unmöglich ist, irgendetwas zu "wissen" über Gregors Motive - keiner, aber auch gar keiner hatte die geringste Ahnung, dass Gregor diesen Schritt machen würde - aber dennoch: Verantwortliche gibt es. Sicher sind wir selbst da gefragt, wir haben uns mit aller Konsequenz über unser eigenes Tun hinterfragt, haben im besten Gewissen gehandelt, ganz sicher in Liebe und waren einfach zu blauäugig, zu vertrauensselig, als dass wir auch nur irgendeine Ahnung so ernst genommen, ja sie zugelassen hätten.
Vielleicht gab es Dispositionen die wir gar nicht begreifen können, vielleicht hat Gregor an Dingen gelitten, die wir gar nicht erahnen, denn das ist das schlimmste, was wir über uns und unsere "intakte" Familie herausgefunden haben: Wir dachten wir wissen etwas voneinander, würden die Geheimnisse kennen, aber das war ein eitler Trugschluss. So mag viel unter der Oberfläche verborgen gewesen sein, Ängste, Mutlosigkeiten, Verzweiflungen, aber akut wurde dies alles erst im Zusammenhang mit der Schule. Da besteht leider kein Zweifel mehr.

Wir wollen dieses Schreiben auch so verstehen, dass wir Euch berichten, wie wir diese Verantwortlichkeit der Schule jetzt sehen, und dass man etwas unternehmen muss, um für die vielen, vielen anderen Schüler, denen es vielleicht ähnlich ergeht wie Gregor, etwas Sinnvolles aus dem unsinnigen Tod von Gregor ziehen zu können.
Ihr wisst vielleicht, dass wir sofort von einer Verantwortlichkeit der Schule, bzw. des Klassenlehrers ausgehen mussten. Wir hatten diesem Anfang Februar in einem zweistündigen Gespräch alles, was uns bei Gregor Sorge machte berichtet und ihn gebeten, uns über alle Auffälligkeiten, auch seine Noten und Schulschwierigkeiten angemessen und kontinuierlich zu berichten. Dies hat dieser Lehrer nicht getan. Stattdessen hat er nach den Osterferien (und nach einem längeren Telephonat mit Libuse, in dem nicht die leiseste Andeutung in diese Richtung gefallen wäre) dem Gregor gesagt ("Da hast Du wohl Scheiße gebaut") dass er einen blauen Brief bekomme, Er solle das den Eltern sagen.

Gregor war, wie ihr vielleicht wisst, hochbegabt, eine Veranlagung, die paradoxerweise auch zu großen schulischen Problemen führen kann. Gregor hatte diese seit der siebten Klasse. In Englisch, Latein und Mathe bekam er schlechte Noten, trotz Nachhilfe in Latein, trotz Konversationsübungen in Englisch. Dummerweise konnte er in der Nachhilfe alles, im Konversieren war er völlig fit und wir verließen uns auf seinen Willen, die Dinge richtig zu machen und darauf, dass der Klassenlehrer (Deutsch/Englisch) uns ja auf dem Laufenden halten wollte.
Der blaue Brief war deswegen eine Katastrophe, es machte ihm möglicherweise deutlich, dass alles Lernen, alles Engagement, das er aufgebracht hatte und immer noch zeigte, nichts nutzte, dass es abprallte an dem für ihn so unmenschlichen System der Schule, die er einerseits liebte - es war seine innere Heimat mit den Klassenkameraden, der eigenen Identitätsfindung und all dem aufkeimenden Hoffnungen, die sich so ein dreizehnjähriger machen kann) und andererseits, die für ihn der blanke Schrecken wurde, weil sie so gar nichts Gutes an ihm ließ. (in der Orientierungsstufe war das alles noch ganz gut gegangen, Rechtschreibdefizite hatte Gregor weitgehend behoben, sodass einer gymnasialen Empfehlung nichts mehr im Wege gestanden hatte, ganz zu Schweigen vom guten Notenbild) Wir, natürlich auch in unserer Panik, verfügten zusätzliche Lernphasen, und wollten Klarheit haben über seine Noten, wollten mit den Lehrern sprechen, die wir meinten noch überreden zu können, mehr zu sehen als nur Fehler in einer zusammengewürfelten Klausur.
Es gab auch hier keinerlei Antwort der betroffenen Lehrer auf unsere Anfragen, Nicht nur Gregor lief ins Leere, auch wir. Und dann die fürchterliche Geschichte, die wohl den letzten Stein auf das beladene Seelchen von Gregor warf: Er hatte uns eine fünf in Englisch verschwiegen, (weil wir dann sicherlich nicht erlaubt hätten, dass er am Nachmittag zum Skaten fahren könne), durch Zufall kam es raus. Ach, Wenn wir in die Zukunft hätten schauen können... Aber so riefen wir bei Gregor an, der sich gerade über Nacht (der 7.Mai war wegen des Abiturs im Kippenberg Gymnasium schulfrei) bei einem Freund aufhielt. wir machten ihm Vorwürfe, warum er uns nicht die Wahrheit gesagt habe in dieser schwierigen Situation, ich sagte, er stelle unser gegenseitiges Vertrauen in Frage, sagten, jetzt müssten wir noch einen Gang zulegen, drei Fünfer seien eben schon kaum aus der Welt zu schaffen usw. Für mich (Tilman) war das die letzte Unterhaltung mit Gregor.

Er kam am nächsten Morgen, er und Libuse brachten noch den kleinen Bruder Emil zum Bus, der ins Schullandheim fuhr, dann gingen Libuse und Gregor wieder nach Hause, sprachen noch eine Stunde darüber, dass wir das alles schon noch in den Griff bekommen werden, Es gab auch konkrete Pläne über Schulwechsel, er könne sich alles überlegen, was für ihn gut sei, wir würden das unterstützen. Ein paar Tage vorher war noch der Pastor der Friedensgemeinde bei uns gewesen, hatte mit Gregor über seine Taufe gesprochen, die er aus eigenem Antrieb - und auch nicht unbedingt im Einklang mit unseren Vorstellungen damals - erhalten wollte.
Das Gespräch mit Libuse war das letzte, was wir mit Gregor zusammen erleben durften.

Libuse hat ihn gefunden, hat die ganze Panik, die ganze Furchtbarkeit dieser grausamen Situation ungeschützt erfahren, ich kam zwei Stunden später nach Hause und habe den toten Gregor noch gesehen und die Wüste dieser unbegreiflichen Tat legte sich über uns wie ein alles verschlingender Sturm.
Und wieder die Schule: Wir hätten in den Tagen der tiefsten Trauer, in den Tagen des endgültigen Abschiednehmens es nicht ertragen können, wären diese ganz bestimmten Lehrer, diese ahnungslosen, selbstgefälligen Quäler an der Trauerfeier erschienen. Wir wollten aber auch keine Personen direkt ausschließen, so war es für uns klar, dass keiner der Lehrer aus der Schule, ausgenommen von drei Lehrern der Orientierungsstufe, an der Trauerfeier teilnehmen sollte.

Daneben versuchten wir die Verantwortlichkeit der Schule weiter zu hinterfragen, wollten die Noten von Gregor im Detail wissen, da wir immer noch nicht die Berechtigung dieses blauen Briefes nachvollziehen konnten, ganz abgesehen von der Vorgabe, bei solchen Entscheidungen die "gesamte Persönlichkeit" eines Kindes zu berücksichtigen. Dazu hatten wir eine Menge Fragen nach den Hintergründen, die alle in der konkreten Schulsituation von Gregor eine belastende Rolle gespielt hatten.
Die Schule war zuerst entsetzt über die vermeintliche Schuldzuweisung, reagierte mit sinnloser und verletzender Selbstrechtfertigung, (Wir mussten über eine tragische Verknüpfung von Tatsachen über den Schulhof des Kippenberg erfahren, dass der von der Polizei beschlagnahmte Abschiedsbrief von Gregor noch eine Rückseite hatte), und es kam dann zu einem Gespräch zwischen der Schulleitung, der Schulbehörde einigen Lehrern, Schülern, Elternvertretern unter der Moderation des Pastors Klingbeil-Jahr von der Friedensgemeinde. Ergebnis dieses Gesprächs war es, dass die Schulbehörde von der Schule erwartete, dass sie unsere Fragen - und wir sollten diese sogar noch präzisieren, was in unserer Lage ein erneuter Gang durchs Feuer war - binnen zwei Wochen beantworten sollte.
Wir gingen eigentlich mit dem Gefühl aus dem Gespräch nach Hause, dass es doch möglich sein könne, die Verkettung dieser schlimmen Umstände, die Gregor zu seiner maßlosen Tat bewogen hatte zumindest nachzuvollziehen, zumindest über den Schmerz noch einen kleinen Anteil an unserem Sohn zu haben. Vielleicht auch durch die Grenzenlosigkeit dieser Tat, die Schule aufzurütteln, die Behörde aufzurütteln, das zu erkennen, was Schule in grenzenloser Blindheit - verordneter Blindheit - vermeintlich sachgezwungener Blindheit - den Schülern antun kann. Und doch: es plagte uns die ungeheure Vorstellung, was wäre wenn sich herausstellen würde, dass de Schule tatsächlich entscheidende Fehler gemacht haben könnte, die zumindest im Sog dieser Gedankenwelt Gregors eine wichtige Rolle gespielt haben könnten? Dieser Gedanke war auch kaum auszuhalten. Immer wieder tauchte die Vorstellung auf, was hätte sein müssen, dass Gregor noch lebte. Welche Fehler, Unachtsamkeiten, welche Gedankenlosigkeiten und vermeintliche Sorge hätten dem Leben von Gregor eine andere Wendung geben können? Ganz viele Menschen fragten sich diese Fragen, ganz viele Menschen versuchten diesen Tod zurückzudrehen, sich selbst zu hinterfragen.

Und unser Argwohn bestätigte sich sehr schnell: Von der Schule kam keine Antwort auf unsere brennenden Fragen. Zuerst waren die Lehrer psychisch so fertig, dass sie zu einer ernsthaften professionellen Arbeit nicht mehr in der Lage waren, Respekt vor unserem Leid drehten sie um in öffentliche Aussagen als seien wir diejenigen, die die Lehrer jetzt zu Opfer machten - "Heckenschützen" würden den Lehrern auflauern, wurde in einem Elternabend von einem beteiligten Lehrer geäußert. Dann wurde der Personalrat eingeschaltet, es hieß man könne dazu keine Antworten geben, man wisse ja nicht was aus diesen Antworten gemacht würde, in ihrer Not verfügte die Behörde, dass noch in den Sommerferien wenigstens der Schulleiter Rede und Antwort stehe solle. Doch was soll der sagen, wenn ihm die Lehrer keine Auskunft erteilen?
Der Schulleiter gab dann Antworten auf unsere, auf ein recht harmloses Format von der Behörde zurechtgestutzte Fragen; von den erweiterten Fragen blieb sowieso nichts mehr übrig. Wir sagten, das könne uns nicht überzeugen, zumal der Kern - hat jetzt Gregor den blauen Brief zu Recht bekommen oder nicht, ist da eine Fahrlässigkeit seitens der Schule passiert - überhaupt nicht mehr in den Fragen auftauchte. Man wolle nachbessern wurde uns versprochen, ein Termin wurde noch in den Sommerferien versprochen. Dies geschah wieder nicht, wir zogen jetzt einen Rechtsanwalt zu Rate, und auch das half nichts. Es kam keine Antwort. Es blieb uns fast nichts anderes übrig als anzunehmen, dass die Schule tatsächlich Fehler begangen hat, dass jetzt das gute Image dieser Schule gefährdet sein könnte - immerhin Bremens und der CDU ihr Vorzeigegymnasium...
Es wurde weiter geschwiegen.
Über einen guten Freund bekamen wir dann einen Termin beim Senator, er war hell auf entsetzt, versprach dies zu seiner Chefsache zu machen und auch er war machtlos. Es ist jetzt ein halbes Jahr her seit Gregors Tod und noch kein einziges klares Wort zu dem was die Schule angeht. Es ist ein ungeheurer Skandal.
Und dabei wurde immer klarer, wo eigentlich das schlimmste an dieser ganzen Sache ist: Auch wenn ich selbst Lehrer bin wird mir immer klarer, wie undemokratisch diese Schule ist, wie maßlos selbstüberheblich, wie preußisch autokratisch sie sich gebärdet. Wir haben das alle am eigenen Leib erlebt, haben die Lehrer deswegen gehasst, manche auch geliebt, die, die das hermetische System wenigstens noch mit Menschlichkeit anfüllten, Aber Schule verfügt keine Menschlichkeit, die Verfügungen von Schule gehen immer auf Kosten der Schüler. Es werden zwar den Lehrern mehr Stunden anvertraut, gleichzeitig größere Klassen, die Mittel werden reduziert, und die geforderte Eigeninitiative der Schulen wird dann systematisch wieder kleingehackt.

Der Kern, eine klare Verantwortlichkeit, eine einklagbare Verantwortlichkeit der Schule gegenüber den Kindern und Jugendlichen und auch gegenüber den Eltern, den gibt es nicht.

Immer wieder haben wir von Eltern gehört, wir finden das zwar sehr schlimm, was mit Gregor geschehen ist, aber wir können dagegen in der Schule nichts unternehmen, 'denn unsere Kinder gehen selbst auf diese Schule, und wer weiß was dann mit denen geschieht...', solche Aussagen müssen wir uns immer noch anhören - von ganz ernstzunehmenden Menschen, Menschen, die ihren Beruf ausüben, die über andere Menschen Verantwortung tragen, die ihr Leben im Griff haben - doch vor der Schule kapitulieren sie, werden zu Handlangern, zu Angsthasen und zu Kuschern. Das hat Schule aus uns allen gemacht. Und ein hochsensibler Junge, voll von Gerechtigkeitssinn, der diesem Leben sich hingeben wollte, der hat den Tod vorgezogen, als diese Verlogenheiten weiter ertragen zu müssen. Und fast alle - auch ich - habe in dieser Verlogenheit mit drin gesteckt. Nein, ich stecke immer noch mit drin.
Ich möchte aber - so sehr es weh tut - dennoch nicht aufgeben, will Gregors gerechte Sache weiter verfolgen. Ich möchte mit Menschen, die das verstehen einen Elternverein gründen, einen schul-unabhängigen Elternverein, der eigentlich bundesweit aufgebaut werden müsste. Dieser Elternverein könnte dann tatsächlich zu schlimmen Zuständen an einzelnen Schulen, aber auch - und ganz besonders - zu gravierenden Problemen in der Bildungssituation Stellung nehmen und Akzente setzen, könnte mit Medien zusammenarbeiten, selbstverständlich auch mit Politikern, könnte Schülern und Eltern helfen, die in Not sind, könnte einen Schul-TÜV einführen, könnte klar sagen, wo etwas nicht stimmt. Das könnte ein Verein sein (werden), der vielleicht dieses vollkommen verrottete Schulsystem in Deutschland doch noch ein bisschen umkrempelt, der dem Wahnsinn der von diversen Finanzministern verordneten Bildungsmisere einen Riegel vorschiebt, der den einzelnen Menschen - Eltern und Kinder - eine Stütze sein kann in schweren Zeiten. Mitglieder dieses Vereins könnten in Unterrichten hospitieren, könnten Prüfungen beiwohnen, könnten Lehrern den Rücken stärken in ihrem sinnlosen Kampf gegen immer wieder neue Verordnungen, neuen Richtlinien, neuen Prüfungsordnungen, die allesamt genauso schlecht sind wie die vorhergehenden.
Und dazwischen merken diese Bildungsbehördler überhaupt nicht mehr, was Jugendliche heute brennend interessiert, und dass sie gar keine Computer haben wollen, sondern Liebe, Ruhe und begleitende Schritte in ihr Leben. Lehrer und Schulbehörden müssen lernen, dass sie Dienstleister der Eltern und Schüler sind, dass sie den Eltern und den Schülern gegenüber Verantwortung tragen und erst dann ihrem sogenannten Dienstherrn.
Dieser Verein könnte "Peace Gregor" heißen. Das ist der Name, den der kleine Bruder Emil vorgeschlagen hat.

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